Ein Eindruck aus Kolumbien.
Die Theologin und Künstlerin Dr. Anne Stickel lebt in Medellin in Kolumbien. Mit mehr als 2,5 Millionen Einwohnern ist Medellín die zweitgrößte Stadt Kolumbiens nach der Hauptstadt Bogotá. Sie hat uns ihre Eindrücke über die aktuelle Situation in der Corona-Krise in dem lateinamerikanischen Land aufgeschrieben. Hier ein Auszug:
Es begann, als die Kinder auf der Straße „Coronavirus“ spielten. Da spürte man, dass sich etwas verändert hatte. Das Spiel ging so: Einer ist Coronavirus und muss einen anderen abschlagen. Dann sind die beiden gemeinsam Coronavirus, und sie schlagen die anderen ab. Irgendwann sind alle Coronavirus. Und das Spiel ist vorbei. Das war Mitte März. Seit Ende März spielen keine Kinder mehr auf den Straßen. Keine Alten sind mehr zu sehen. Der Coronavirus zieht unsichtbar durch Kolumbiens Straßen. Ein Feind, den niemand sehen kann, selbst in vielen Laboratorien nicht, weil das Equipment oder die Reaktionsmittel fehlen, mit deren Hilfe man ihn sehen kann, in Proben, wenn man sie denn nimmt. Wenn die Tests denn nicht nur gekauft, sondern auch geliefert würden. Wenn sie es aus China ins Land, und aus der Landeshauptstadt in die Regionen geschafft haben. Wenn nicht nur die örtlich wichtigen Personen davon profitieren, sondern auch die „einfache“, „breite“ Bevölkerung. Dann könnte man vielleicht wissen, mit wem man es zu tun hat.
Die Regierungen vom Land und den Departamentos haben drastische Maßnahmen ergriffen. Ein weitreichendes Ausgangsverbot ist eine davon. Menschen über 65 Jahre und Menschen unter 18 Jahren haben absoluten Hausarrest, ohne jede Ausnahme. Zu Hause bleiben, um einer Ansteckung zu entkommen, die Idee der Isolation in einer angemessenen Anzahl Räume, ist in Kolumbien eine Illusion, eine soziale Lüge – und nicht nur, weil die Menschen, die im Homeoffice und auf einem Balkon arbeiten, vernichtend wenige sind. Nicht nur Indígenas leben in großen Familiengruppen zusammen, auch auf den Dörfern, dem Land ist Gemeinschaft gleichzeitig kulturelles, soziales und wirtschaftliches Bedürfnis, eine Notwendigkeit mehr noch in den Städten, in den Elendsvierteln, bei den Inlandsvertriebenen, den Opfern des Konflikts, den Armen und Arbeitern; es wird nah zusammengelebt, auf engem Raum.
Aber Kolumbien wäre nicht Kolumbien, würden die Menschen nicht dem Tod ein Schnippchen schlagen, dem Virus ins Gesicht lachen und das Leben feiern, weil das nur im Leben geht. Die größte Schnapsfabrik des Landes produziert reinen Alkohol zur Desinfektion von Krankenhäusern. Studierende an Universitäten entwickeln Beatmungsgeräte, die günstig national zu produzieren sind. Bauern liefern direkt und ohne Zwischenhändler an Supermärkte und Privathaushalte. Ganze Straßen spielen abends Bingo zusammen, ohne dafür die Häuser verlassen zu müssen, auf den Balkonen, per Megafon auf der Straße konzertiert und organisiert. Weil keine Karfreitagsprozessionen stattfinden können, organisieren die Stadtviertel Gottesdienste vor Wohnungen und Häusern. Durch einige Straßen fahren Autos mit Priestern, die Weihwasser verspritzen; in anderen ist es die Feuerwehr, die ohne Ankündigung die Straßen mit Desinfektionsmittel versorgt, ein Spaß für die Kinder, die sich darin baden, als wäre es die Sprinkleranlage im Nachbargarten, die es nicht gibt. Und da sind die Echsen und Ameisenbären und Kleinkrokodile und Schlangen und Schmetterlinge, die Natur, die „Mutter Erde“, die sich wieder reckt und streckt, wo Menschen ihr nicht in die Quere kommen, Buchten werden glasklar, Füchse ziehen durch die Straßen, und der Himmel ist so transparent, dass man den Eindruck hat, Gott ließe sich sehen – da oben, und in der Seele derer, die sich an ihm freuen und mit Zuversicht nach vorne sehen. „Aislados hoy, para que cuando nos volvamos a juntar, no falte nadie.” Auf dass niemand fehlt, wenn wir uns morgen wiedersehen.
Foto: Stefanie Hoppe