**Gedanken nach dem Attentat von Solingen**

**Gedanken nach dem Attentat von Solingen**

Am Samstagmorgen entdeckte ich eine Kerze im Status einer Verwandten aus Solingen. Zunächst erschrak ich, da ich dachte, jemand aus der Familie sei gestorben. Doch im nächsten Bild erfuhr ich von dem Attentat, das am Abend zuvor geschehen war. Sofort las ich die Nachrichten. Trauer und Entsetzen erfüllten mich. Menschen waren zur falschen Zeit am falschen Ort – ein tragischer, schicksalhafter Moment, der dennoch grausam und sinnlos bleibt. Wie sollen die Angehörigen das jemals begreifen?

Mein zweiter Gedanke war, dass dieses Ereignis Ängste vor Volksfesten, Konzertbesuchen und Freizeitparks schüren könnte. Sofort kam mir in den Sinn, dass auch ich am nächsten Tag beim Stadtteilfest in Castrop-Rauxel stehen würde.

Angst ist immer ein schlechter Ratgeber, doch sie entfacht Diskussionen. Schuldige werden gesucht, und vermeintlich einfache Lösungen werden präsentiert. Das macht mir Angst.

Mein dritter Gedanke war, dass das Attentat die Diskussionen um Asyl- und Migrationspolitik erneut anheizen könnte. Radikale, schnelle Lösungen und die Suche nach Schuldigen führen oft dazu, bestimmte Gruppen pauschal verantwortlich zu machen.

Bei allem Mitgefühl für die Toten und Verletzten: Wir dürfen uns nicht für politische Zwecke instrumentalisieren lassen. Die Geschichte hat gezeigt, wohin das führen kann. Es gibt keine schnellen Lösungen, genauso wenig wie es eine plötzliche Radikalisierung von Menschen gibt. Der IS radikalisiert seine Anhänger schrittweise über das Internet. Sein Ziel ist die Zersetzung westlicher Gesellschaften. Demokratie, Vielfalt und Toleranz sind ihm ein Dorn im Auge. Es sind nicht die Syrer, Afghanen oder Flüchtlinge, die zu Tätern werden – es sind Einzelne, deren Lebensgeschichte sie anfällig für diese Form der Radikalisierung macht. Auch Deutsche sind davor nicht gefeit, wie die zahlreichen Männer und Frauen zeigen, die sich dem IS angeschlossen haben.

Forderungen wie „Keine Flüchtlinge mehr ins Land, alle abschieben, Einbürgerungen stoppen“ hallten in meinen Ohren wider, als Politiker*innen unseres Landes diese vermeintlich einfachen Lösungen präsentierten. Doch das ist Populismus.

Der Attentäter war ein sogenannter „Dublin-Fall“ – ein Syrer, der zuerst in Bulgarien registriert wurde, womit Bulgarien für sein Asylverfahren zuständig war. Das Dublin-Abkommen regelt dies klar. Allerdings funktioniert die Rücküberstellung in die zuständigen Länder selten, sodass nach Ablauf der Frist von sechs Monaten Deutschland zuständig wird. Hätte man diesen Mann nach Bulgarien zurückgeführt, wäre er letzten Freitag nicht in Solingen gewesen. Aber das allein rechtfertigt nicht den Ruf nach der Abschiebung aller Flüchtlinge.

Eine kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion (20/10495) an die Bundesregierung (20/10869) zeigt, dass 2023 zwar 55.728 Zustimmungen für Überstellungen durch die Mitgliedstaaten erteilt wurden, aber nur 5.053 tatsächlich durchgeführt wurden. Wie kann das sein?

Auch in unserer Ausreiseberatung gibt es viele Anfragen zur freiwilligen Rückkehr. Doch selbst diese scheitern oft an langen Wartezeiten, bürokratischen Hürden und zahlreichen Antragsformularen. Gleichzeitig fordern Politiker*innen öffentlich, dass mehr abgeschoben und weniger Schutz gewährt werden soll.

Den Ausländerbehörden die Schuld zuzuschieben, ist keine Lösung. Diese sind chronisch unterbesetzt, schlecht bezahlt, unbeliebt und stehen ständig im Fokus der Öffentlichkeit. Sie hecheln den Ereignissen nur hinterher.

Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Es ist nicht einfach schwarz oder weiß, es ist komplex – oder, um mit Theodor Fontane zu sprechen: „Es ist ein weites Feld.“ Es gibt keine einfache Lösung. Doch eine Spaltung unserer Gesellschaft dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen weiterhin eine Zuflucht für verfolgte Menschen sein, Menschenrechte achten und umsetzen. Andererseits müssen wir radikalen Gruppierungen entschieden entgegentreten. Die Politik ist gefordert, Stellen wie Polizei und Nachrichtendienste so auszustatten, dass sie neuen Formen der Radikalisierung im Internet auf die Spur kommen, diese beobachten und Netzwerke zerschlagen können.

Einzeltäter wie in Solingen werden auch in Zukunft nicht auszuschließen sein, aber eine gesunde, wachsame und zusammenstehende Gesellschaft kann diese zumindest begrenzen.

Natürlich muss auch über die europäische Asylpolitik nachgedacht werden, denn viele europäische Länder ziehen sich seit Jahren aus der Verantwortung. Es müssen einheitliche Bedingungen geschaffen und kontrolliert werden, denn das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht. Doch auch die Fluchtursachen müssen wir anerkennen. Unser europäischer Wohlstand basiert auf der Ausbeutung vieler Länder über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Die Lebensbedingungen der dort lebenden Menschen wurden zerstört. Wundern wir uns wirklich, dass diese Menschen nun nach Europa kommen?

Wir trauern um die Toten und beten für sie. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen, denen wir Kraft wünschen, die Sinnlosigkeit dieses Todes zu verarbeiten. Den Verletzten und ihren Familien wünschen wir körperliche und seelische Genesung.

Ebenso denken wir an all jene, die als Polizei, Rettungskräfte und Seelsorgende zur Stelle waren. Sie verdienen unsere Hochachtung.

Lassen wir uns durch solche Taten nicht spalten. Nur gemeinsam kann eine Gesellschaft so etwas bewältigen und begrenzen!